Am Ende

Bevor dieser Essay endet, muß er erst einmal beginnen. Die Mühen und Ängste des Anfangs sind oft schon beschrieben worden, viel öfter als die Nöte des Endens. Beim Schreiben gilt der Anfang als die eigentlich heroische Tat: vom weißen Blatt zur ersten Silbe, vom Nichts zum Wort. Am Ende steht der letzte Satz, der einer von vielen ist. Natürlich fällt ihm Gewicht zu, er rundet den Text ab, schließt den Bogen, es ist der letzte Ton, der nachklingt und im Gedächtnis haften bleibt. Aber gegen den Anfang ist er nur der folgerichtige Ausklang einer großen Anstrengung.

Ende und Anfang: das ist eine Denkfigur, die wir eingeübt haben. Wir können das Ende nicht ohne Anfang denken, wir schaffen es nicht, es ist ja auch eine kaum durchführbare gedankliche Übung: was geht denn zu Ende, was ist vorher passiert, welche Geschichte kommt zum Abschluß. Jedem Ende wohnt ein Zauber nur deswegen inne, weil in ihm ein neuer Anfang mitschwingt.

Geschichten, die wir nur vom Ende her kennen, lassen uns kalt oder gehen uns nicht an. Wir wollen Zeugen einer Entwicklung sein, daran glauben wir, daran haben wir uns gewöhnt. Es gibt, auch eines unserer Glaubensbekenntnisse, weil alles andere unerträglich wäre, ein passendes Ende. Sogar an einen unserem Leben angemessenen Tod würden wir am liebsten glauben, an ein uns gemäßes Ende, das den Lebensbogen abrundet.

Enden ohne Folgerichtigkeit, zufällige Enden, beiläufige Enden halten wir schwer aus. ‚So lebte er hin’ endet Büchners ‚Lenz’, ein Ende, das die Figur für immer in die Zwangsjacke der Gleichgültigkeit sperrt und in seiner gewollten Beiläufigkeit vernichtender ist als jeder Paukenschlag; aber dieses Ende ist eben absolut folgerichtig, weil für Lenz, diesen vibrierenden Klangkörper einer bis aufs Äußerste gespannten Überaufmerksamkeit, Abstumpfung die größtmögliche Katastrophe darstellt. Folgt man den Philologen, ist der Text Fragment und das Ende in der Tat ein vorläufiges; Büchner hat also vermutlich die Nöte des Endes mit dieser Novelle nicht austragen müssen. Aber die Leseerfahrung schert sich nicht um Philologie und genügt sich in der plausiblen, weil gnadenlosen Vollendung eines Zähmungsaktes.

Wie der Anfang, so das Ende: Unser Sinnbedürfnis zeugt, auch in Zeiten der Diffusion und spielerischen Unabgeschlossenheiten, von einem erstaunlich hartnäckigen Abrundungswillen. Wie heroisch es doch eigentlich ist, der Gegenwart noch eine formale Geschlossenheit abzuringen. Daß wir unsere Geschichten überhaupt zuende erzählen, ist vielleicht unumgänglich, vielleicht blindwütig, auf jeden Fall regressiv – wehe, die Gutenachtgeschichte am Bettrand liefe ins Leere. Wenn die Erzählstimme sich ausblendet, bleiben wir allein im Dunkeln. Nichts ist schwerer als zu verstummen. Damit wir überhaupt einschlafen können, müssen wir daran glauben, daß die Geschichte uns nicht ins Leere schleudert, uns keine Zerfaserung zumutet, sondern in der Stille nachklingen kann. Und darin kündet sich dann, so wollen wir es, gleich die Geschichte des nächsten Tages an, weil es weitergeht. So ist die Zumutung der Endlichkeit gut zu ertragen.

Das alles muß das Ende uns versichern. Kein Wunder, daß es so schwer ist, ein Ende zu