Gelesenes, Spuren, Findlinge, Wegzehrung

Idyll
Ich lag und sann, da kamen Kram-Gedanken.
Natürlich ist es recht, den Kram im Kopf zu haben.
So hältst die Sterne du in ihren Bahnen.
Statt aus der Welt heraus zu existieren
und fremd zu sein wie dir mehr als den Tieren.
Laß deinen Kram wie Himmelskörper strahlen
und denke dir zum Abschluß Brombeerranken.

Elke Erb, Sonnenklar Meins

 

Nach Einbruch der Dämmerung
Am tiefsten Punkt seines Missgeschicks erhob sich ein Mann; er stand auf, klopfte den Sand von der Hose und lief nach Süden. Ein anderer Mann, dem es nicht viel besser ergangen war, erhob sich und lief in nördlicher Richtung. Daraus ergab sich nach Einbruch der Dämmerung das berühmte Zusammentreffen der beiden Männer und einer der unvergesslichsten Augenblicke in der Erforschung Afrikas. Wer diese beiden Männer waren, lässt sich nicht sagen; obwohl doch gerade hier die Gelegenheit gewesen wäre, es herauszufinden. 

Ror Wolf, Nachrichten aus der bewohnten Welt

 

I leave my nest.
I pack my bags.
I give everything away.
I am what I have lost.
I leave my home.

Louise Bourgeois

 

Wie schwer ist das Sehen. Und es gibt keine Schule dafür; jeder kann es nur selber lernen, Tag für Tag neu. Aber dann, in der Betrachtung, hat selbst das Schwarz der toten Blätter jetzt ein Leuchten.(...)
Man kann nicht die Sprache verlieren. Man fängt immer wieder an zu sprechen, nur leiser.(...)
Für mich gibt es doch keine schönere Befreiung, als verhaftet zu werden den Dingen der Welt – verhaftet den regennassen, rundlichen Zaunstangen, den einzelnen Tropfen an den gemuldeten Fliederblättern, der den Handbesen aus dem Fenster schüttenden Frau.(...)
Das Erzählen: unpersönlich UND warm.(...) 

Peter Handke, Am Felsfenster morgens

 

Ach, wenn man nur eine Erklärung hätte. Oder zumindest eine Mischung aus Minze und Flieder.

Monika Rinck, Ah das Loveding

 

Wissen, daß man nicht für den Anderen schreibt, wissen, daß diese Dinge, die ich schreibe, mir nie die Liebe dessen eintragen werden, den ich liebe, wissen, daß das Schreiben nichts kompensiert, nichts sublimiert, daß es eben da, wo du nicht bist, ist – das ist der Anfang des Schreibens.

Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe

 

Jetzt ziehe ich auch mein Bordtagebuch heraus und beschreibe diesen schreibenden Mann. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß er jetzt schreibt: ‚Eine Frau, die etwas aufschreibt. Sie hat die Schuhe ausgezogen, den Rucksack neben sich auf den Boden gestellt…' Geniert euch nicht – ihr anderen, meine ich, die ihr auch aufs Einsteigen wartet -, nehmt eure Tagebücher raus und schreibt. Wir, die Aufschreibenden, sind ja zu vielen. Wir lassen uns nicht anmerken, daß wir einander betrachten, wir heben den Blick nicht von den Schuhen. Wir werden uns gegenseitig aufschreiben, das ist die sicherste Form der Kommunikation, wir werden einander in Buchstaben und Initialen verwandeln und auf den Seiten der Notizbücher verewigen, wir werden uns plastinieren, ins Formalin der Sätze versenken.
Die Stewardessen, schön wie Engel, prüfen unsere Reisekompetenz und erlauben uns mit sanfter Hand, in die weichen, mit Teppich ausgelegten Wölbungen des Tunnels zu sinken, der uns an Bord des Flugzeugs führt und dann, auf einem stürmischen kalten Weg, zu neuen Welten. In ihrem Lächeln verbirgt sich, wie uns scheint, ein Versprechen, daß wir vielleicht Neugeborene werden, diesmal zur rechten Zeit am rechten Ort.

Olga Tokarczuk, Unrast

 

Was mir vorschwebt, ist eine Pädagogik der Einbildungskraft, die uns dazu erziehen müßte, unsere innere Sicht zu kontrollieren, ohne sie zu ersticken und ohne sie auf der anderen Seite n eine konfuse, labile Phantasterei verfallen zu lassen, sondern es vielmehr zu erlauben, daß die Bilder sich zu einer Form kristallisieren, zu einer klar definierten, einprägsamen, sich selbst genügenden Form.
Die Literatur lebt nur, wenn sie sich maßlose Ziele setzt, auch jenseits aller Realisierungsmöglichkeiten. Nur wenn Dichter und Schriftsteller sich Projekte vornehmen, die andere nicht einmal zu denken wagen, behält die Literatur eine Funktion.
Könnte doch nur ein Werk möglich sein, das außerhalb unseres Selbst konzipiert worden ist, ein Werk, das uns erlauben würde, aus der begrenzten Perspektive eines individuellen Ichs auszutreten, nicht nur, um in andere ähnliche Ichs einzutreten, sondern um sprechen zu lassen, was keine Sprache hat, den Vogel, der sich auf die Dachrinne setzt, den Baum im Frühling und den Baum im Herbst, den Stein, den Beton, den Plastikstoff…

Italo Calvino, Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend


In der Art sprach er weiter, man horchte auf, es traf vieles, er war rot geworden über den Reden, und bald lächelnd, bald ernst schüttelte er die blonden Locken. Er hatte sich ganz vergessen. 

Georg Büchner, Lenz

 

The feeling swept over me that I had truly left Darlington Hall behind, and I must confess I did feel a slight sense of alarm – a sense aggravated by the feeling that I was perhaps not on the correct road at all, but speeding off in totally the wrong direction into a wilderness. […]
Then she was standing before me, and suddenly the atmosphere underwent a peculiar change – almost as if the two of us had been suddenly thrust on to some other plane of being altogether. I am afraid it is not easy to describe clearly what I mean here. All I can say is that everything around us suddenly became very still. […]
I do not think I responded immediately, for it took me a moment or two to fully digest these words of Miss Kenton. Moreover, as you might appreciate, their implications were such as to provoke a certain degree of sorrow within me. Indeed – why should I not admit it? – at that moment, my heart was breaking. 

Kazuo Ishiguro, The Remains of the Day

 

Seeing Stars
A young, sweet-looking couple came into my pharmacy. The woman said, 'I'd like this hairbrush, please. Oh, and a packet of sugar-free chewing gum. Oh, and I'll take one of these as well,' she added, pointing to a pregnancy-testing kit on the counter. I slipped it into a paper bag, and as I was handing back her change I winked at her and said, 'Fingers crossed!' 'What did you say?' asked the man. 'I was just wishing you luck,' I said. 'Why don't you mind your own business, pal,' he hissed. 'Or is it giving you a big hard-on, thinking about my girl dropping her knickers and pissing on one of those plastic sticks?' A booming, cavernous emptiness expanded inside me – I felt like Gaping Ghyll on the one day of the year they open it up to the public. 'You're right, sir,' I said. 'I've overstepped the mark. I'm normally a model of discretion and tact, but not only have I embarrassed you and your good lady, I've brought shame on the ancient art of the apothecary. Please, by way of recompense, choose something and take it, free of charge.' The man said, 'Give me some speed.' 'Er, I was thinking more like a packet of corn plasters or a pair of nail scissors. What about one of these barley sugar sticks – they are very good for nausea?' 'Just get me the amphetamine sulphate,' he fumed. Then the woman said, 'Yeah, and I'll take a few grams of heroin. The pure stuff you give to people in exquisite pain. And you can throw in a syringe while you're at it.' 'But think of the baby', I blurted out.
When people have received a blow to the head they often talk about 'seeing stars', and as a man of science I have always been careful to avoid the casual use of metaphor and hyperbole. But I saw stars that day. Whole galaxies of stars, and planets orbiting around them, each one capable of sustaining life as we know it. I waved from the porthole of my interstellar rocket as I hurtled past, and from inside their watery cocoons millions of helpless half-formed creatures with doughy faces and pink translucent fingers waved back.

Simon Armitage, Seeing Stars

 

Die Ohren, die das alles hörten, wurden von der Musik verwundet, um gleich darauf wieder, nur von einem neuen Strom von Musik, geheilt und erlöst zu werden. So wechselten der Tod mit dem Leben, die Erschöpfung mit der Erquickung, die Verwundung mit der Gesundung ab… 

Robert Walser, Aufsätze

 

Dabei gab es eine Zeit, eine tolle Zeit, da Nina mit ihrer rauhen, heiseren Stimme, ganz unnatürlich für solch ein junges Geschöpf, das sie damals war, die Blicke aller auf sich lenkte, und sie rechtfertigte dieses Interesse, dieses Sich-nach-ihr-Umdrehen vor allem mit ihrem üppigen,wilden und widerspenstigen Haar, mit ihren Angewohnheiten eines faulen Tieres, mit ihrem Auf-der-Erde-Liegen während der Spaziergänge im Grünen und ihrem Recken und Strecken, den schläfrigen Bewegungen und dem völligen Vergessen von Ort, Zeit und Umständen, was recht häufig geschah und bei ihr außerordentlich natürlich aussah. Als sie zum Beispiel mit einer Gruppe von Kollegen vor die Stadt fuhr, um das Gelände der Betriebsferienhäuser zu reinigen, lag sie gleich nach Arbeitsbegin auf dem gerade erst sprießenden Gras und war ganz betäubt von Sonne und Luft. Und dieser Moment kam, als alle ihre Rechen und Besen wegwarfen und sich in die Büsche setzten, um zu essen und zu trinken, da kam es zu der Hauptexplosion, als Nina nämlich mit ihrer unglaublich heiseren Stimme anfing, Gassenhauer zu singen, und sich alle bogen vor Lachen und mit ihr anstoßen wollten, und dann lag Nina schon mit dem Kopf auf den Knien eines anderen; aber das ganze Unterfangen nahm schließlich eine unerwartete Wendung, und Nina beendete nach ihrer Explosion, nach diesen Arbeitsbacchanalien, ihren Tag im städtischen Autobus mit einer leeren Tasche für die belegten Brote auf den Knien. 

Ljudmila Petruschewskaja, Der schwarze Mantel

 

Ich beneide – und weiß doch nicht, ob ich wirklich beneide – diejenigen, über die man eine Biographie schreiben kann oder die ihre eigene Biographie schreiben können. Vermittels dieser Eindrücke ohne Zusammenhang und ohne den Wunsch nach einem Zusammenhang erzähle ich gleichmütig meine faktenlose Autobiographie, meine Geschichte ohne Leben. Es sind meine Bekenntnisse, und, wenn ich in ihnen nichts aussage, so, weil ich nichts auszusagen habe.
Was sollte denn wohl jemand bekennen, was wertvoll oder nützlich sein könnte? Was uns zugestoßen ist, ist entweder allen zugestoßen oder uns allein; im einen Fall ist es keine Neuigkeit, im anderen unverständlich. Wenn ich das aufschreibe, was ich fühle, so tue ich es, weil ich so das Fieber zu fühlen senke. Ich mache Landschaften aus dem, was ich fühle. 

Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe

 

Miss Marsalles sitzt neben dem Klavier und lächelt in der ihr eigenen Art jedem zu. Ihr Lächeln ist weder triumphierend noch bescheiden. Sie schaut nicht drein wie ein Zauberkünstler, der die Gesichter der Leute beobachtet, um die Wirkung einer besonders originellen Enthüllung zu sehen; nichts dergleichen. Man sollte meinen, jetzt, wo sie am Ende ihres Lebens jemanden gefunden hat, dem sie das Klavierspielen beibringen kann – beibringen muss - , würde sie aufleuchten von der Wichtigkeit dieser Entdeckung. Aber es scheint, dass die Spielweise des Mädchens etwas ist, was sie immer erwartet hat, was sie natürlich und zufriedenstellend findet; Menschen, die an Wunder glauben, machen nicht viel Aufhebens, wenn sie tatsächlich einem begegnen.
Das Mädchen hat geendet. Die Musik ist im Zimmer, und dann ist sie fort, und erst einmal weiß niemand, was er sagen soll. Denn sobald sie geendet hat, wird deutlich, dass sie genau dieselbe wie zuvor ist, ein Mädchen aus der Greenhill School. 

Alice Munro, Tanz der seligen Geister

 

Niemand betrachtet den Mond am Nachmittag, und dabei hätte er um diese Zeit unsere Aufmerksamkeit am dringendsten nötig, da seine Existenz noch in Frage steht. Er ist nur ein weißlicher Schatten, der aus dem tiefklaren Blau des Himmels auftaucht, überflutet von Sonnenlicht; wer garantiert uns, daß er es auch diesmal schaffen wird, Form anzunehmen und richtig zu scheinen? 

Italo Calvino, Herr Palomar

 

Ich bin auf Erfahrung angewiesen, die mich begrifflich hilflos macht und von daher narrativ. 

Max Frisch

 

Noch einmal an einem anderen Punkt beginnen. 

Giuseppe Pontiggia, Vom Leben gewöhnlicher Männer und Frauen

 

Unsere Poesie jetzt ist die Erkenntnis, dass wir nichts besitzen. Alles ist daher ein Vergnügen, da wir es nicht besitzen und seinen Verlust nicht fürchten müssen. 

John Cage, Silence

 

If
We dug a hole
Through the moon
We could have light
All the time.
The sun
Would shine through
At night. 

Ivor Cutler

 

Jeder von uns ist mehrere, ist viele, ist ein Übermaß an Selbsten. In der weitläufigen Kolonie unseres Seins gibt es Leute von mancherlei Art. Und diese meine ganze Welt aus einander fremden Leuten wirft wie eine mannigfaltige, aber blockartige Menschenmenge einen einzigen Schatten – diesen stillen, schreibenden Körper. 

Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe