An Nelly

ZEIT vom 18.2.16, Sparte: Liebesbriefe
Liebe Nelly,
immer, wenn ich mit meiner Blockflöte unterwegs bin, denke ich an Dich. Blockflöte: das uncoolste Instrument der Welt. Fanden alle anderen damals und findet immer noch so gut wie jeder, der nicht gerade Alte-Musik-Kenner ist. Dir war das egal. Mit einer Annonce fing es an, wie viele gute Beziehungen. Meine Mutter lud Dich zu uns ein. Ich befürchtete ein Flötenfräulein mit Gesundheitsschuhen und einem Taschentuch im Blusenärmel. Stattdessen stand da eine junge, lockige, sommersprossige Musikstudentin mit einer Liebe zur Blockflöte. Die zehn Jahre, die zwischen uns lagen, haben wir später oft vergessen, wenn wir miteinander unsere Sonaten spielten, die Stimmen ineinander geflochten, eine Polyphonie, die ich beim Schreiben immer noch suche. Aber am Anfang war ich klein und du groß und hübsch, und ich himmelte Dich an. Die Blockflöte sah bei Dir nicht aus wie ein Stück gedrechseltes Holz, sondern wie eine schlanke, bernsteinfarbene Kostbarkeit, die gut in der Hand lag. Eine Weile fingerte ich ungeschickt herum, aber bald schon konnten wir unser erstes Duo spielen: ‚Der Kuckuck und der Esel' im Kanon. Weißt Du noch, wie unersättlich ich war? Ich wollte es immer wieder – und Du hast nicht geschmunzelt, sondern einen richtigen Einsatz gegeben und mir hinterher, nach acht Runden Kuckuck, strahlend zugenickt. Wie seltsam, dass ein paar Töne sich zu einem solchen Glück fügen können – man muss sie nur beharrlich solange wiederholen, bis sie neu werden. Das habe ich mir gemerkt. Wir steuerten auf schwierigere Stücke zu, ich kam in die Pubertät, alle anderen spielten nichts, Saxophon oder E-Gitarre. Bei Dir habe ich die Sturheit der Kunst gelernt – das vollbringen, was wir müssen und können, egal, was der Rest der Welt sagt. Es ist doch ganz einfach: Atmen (statt zu hecheln). Und das Überflüssige weglassen (die Befürchtungen, die Rücksichten, das Vibrato, all das Gezappel). Kunst mit der Blockflöte? Die Frage hast Du Dir gar nicht gestellt., oder? Womit denn sonst? Ob Du Deine trotzige Selbstverständlichkeit immer noch so vergnügt auf die Bühne bringst? Von mir hast Du Dir alles angehört, meine Zweifel, meine unglücklichen Lieben und meine Versuche, das Brandenburgische so zu spielen, dass es sich nicht anhörte wie eine größenwahnsinnige Nähmaschine. Seit damals habe ich nie aufgehört mit der Musik. Die Barockflöte, die Du mir ausgesucht hast, reibe ich mit Mandelöl ein; der klare Ton, den Du mir geschenkt hast, schwingt in mir, oft deutlicher als alle Worte. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen – vielleicht spielen wir ja noch einmal zusammen. Das wünscht sich
Deine Annette