Brütt und das Ja-Sagen

Etwas über Friederike Mayröcker schreiben, ja sofort schreiben, aber zuerst noch mal lesen, und da ist er schon wieder, dieser Zustand, der sich einstellt oder in den ich mich einstelle, wenn ich dieses Buch lese. LESEZUSTAND nennt sie ihn, ein Zustand ähnlich der Trunkenheit, weil eine Sprache zu lesen ist: ‚frisch, weitläufig, voll Farbe, beweglich, erneuerungsfähig, zartgliedrig, konzis'. eine Sprache, die ich wie ein Kind sofort haben will. Ganz genauso soll auch meine Sprache klingen, denke ich, während ich FM lese. Und auch FM gerät in diesen Zustand beim Lesen ihrer Lieblingsbücher, und dieses Lebensbuch brütt ist nun meines, und ihre Sprache, auch wenn sie es selber nicht so sieht, eben eine FÜLLHORNSPRACHE, für mich jedenfalls.

Schon merke ich, wie es wieder passiert, wie immer, wenn ich in diesem Buch lese: Ich kann nicht darüber bleiben, ich gerate hinein, bis in die letzten Hirnrisse füllt es mich, ja rührt mich auch, weil ich mich darin erkenne, beinahe ertappt fühle. Ich beginne, wenn ich darin lese, genauso schreiben zu wollen und tue es auch sofort, nicht um nachzuahmen, sondern weil es mir, während ich lese, als einzige Möglichkeit erscheint, so wie FM lesend und schreibend zu sprechdenken. Ich kann nicht über sie schreiben, sondern nur mit ihr, so wie ich auch fortwährend Seiten ankreuze, Sätze unterstreiche, Eselsohren, Knicke und Ausrufezeichen. Eigentlich müsste ich das ganze Buch abschreiben, weil es nichts darin gibt, was ich nicht behalten will, ich müsste es auswendig lernen, wenn ich ein gutes Gedächtnis hätte, so wie FM Josephs Briefe auswendig lernen will. Und dann ist es auch noch so, dass FM eben das Gleiche mit ihren Lieblingsbüchern tut:

auf solche Weise die ganze Weltliteratur durchstöbert aber nicht wirklich eingefangen, alles nur angetippt, wieder weggelegt, angelesen und abgelegt, überall die Seiten am oberen Rand umgebogen, Lesezeichen aus Papierfetzen (...) dann stürmisch weitergelesen, den Zusammenhang längst verloren, wieder von Anfang an, immer nur Splitter, Teile, Handpalme, Fuß, zerschmetterter Gang meines Lebens, und im Rucksack dermaßen mehrere LIEBLINGSBÜCHER, von welchen ich wenigstens sagen konnte: ja! diese und jene Stelle, ja! dieses und jenes Kapitel, ja! diese und jene Formulierung, dieses und jenes Wort!

Das Buch geht zwar irgendwann zu Ende, aber es kann nicht enden, und das leuchtet mir ein, denn es ist ein fortlaufendes Notieren, das sich nicht subtrahieren lässt vom Leben. Im Gegenteil ist es hineingewoben in alles, nur wenn es nicht stattfindet, ist die Freude verloren:

Nullfreude, sage ich zu Joseph, da ist NULLFREUDE in meinem Leben, außer wenn ich schreiben kann oder spazieren gehen kann unter den Bäumen.

Ich habe lange nicht geschrieben, NULLFREUDE, und dann kam dieses Buch mir in die Quere, es griff mich auf und an, ein Buch gegen alle Spielregeln, Kommaregeln, Marktregeln, gegen alle Buchpreise, aber wer weiß, jedenfalls tat es genau das, was ich im Kopf auch tat, ohne zu ahnen, dass genau dies ja Schreiben sein kann: ein Sprechen mit Abwesenden, die ja doch im sehnsüchtigen Hirn anwesend sind, ein Schreiben mit fernen Pappkameraden, ein versehrtes Warten, das sich nur im Schreiben beschreiben und anreichern lässt. Wörtern nachgehen, lesend lieben und liebend lesen, stop, ich gerate in eine Hymne, das passiert mir sonst nie, in eine Bejahung dieses Zustandes, der das Ende des ausgetrockneten Stillstandes ist, denn wer denkt und spricht und schreibt, sitzt nicht auf dem Trockenen. Sie sieht alles und ich mit ihr: den Blutstropfen an der Fingerkuppe, den Pappuntersatz in der Küche, die Mutter im Traum, und wenn ich jetzt noch mehr aufzähle, wird es eine Liste, eine Form, die ich lange schon benutze, weil Listen die Dinge zusammenbringen in einem zufälligen und reichhaltigen Tanz, und ich fange wieder an mit den Eselsohren und dem fortlaufenden Rufen: ja!